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Wie werden wir in Zukunft beraten?
06.11.2022

Apps, Chats und Virtuelle Welten: Beratung findet zunehmend digital statt. Wie weit das führt, ist offen.



Der technologische Fortschritt machte es möglich und die Coronapandemie gab dem Trend weiter Schub: Immer öfter lassen sich Patientinnen und Kunden heute online beraten, besprechen Symptome oder Kaufwünsche vor eingeschalteter Bildschirmkamera. Vom Gegenüber sehen sie nur das Gesicht und hören seine Stimme.

Denn trotz allen technischen Möglichkeiten fehlen dem Online-Gespräch nach wie vor Verstärker wie Gestik und Körpersprache, die für mehr Klarheit sorgen. Deshalb empfiehlt Pascal Schwartz, online «deutlich konkreter und bewusster zu kommunizieren». Sonst würden rasch Missverständnisse entstehen. Schwartz bietet mit seiner Firma Benefit Impact Beratungs- und Kommunikationsschulungen für Verkaufsteams an. Sein Rat: «Zu solchen Gesprächen gehören eine solide Vorbereitung, aktives Fragen und Zuhören sowie nonverbale Signale wie ein erhobener Daumen.»

Vielen Kundinnen und Kunden falle es zudem schwer, sich auf das Gespräch zu fokussieren, wenn der Gesprächspartner «nur» virtuell gegenübersitze. Deshalb hält Schwartz fest: «Je beratungsintensiver ein Produkt oder eine Dienstleistung ist, desto anspruchsvoller ist es, eine gute Beratung online durchzuführen.»

Die Traum-Armbanduhr virtuell am Handgelenk

Das Manko der eingeschränkten Kommunikation versuchen Anbieter mit technischen Lösungen zu kompensieren: «Auch die virtuelle beziehungsweise die mit digitalen Informationen angereicherte Realität kann ein umfassendes Beratungserlebnis bieten», findet Rolf Rellstab, Dozent für Marketing an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). «Sich eine neue Sonnenbrille virtuell auf die Nase setzen, die Traum-Armbanduhr ans eigene Handgelenk projizieren, das neue Sofa in der Stube platzieren – solche Möglichkeiten werden längst genutzt.» 50 Prozent der Kundinnen und Kunden in der Schweiz hätten gemäss repräsentativen Studien bereits Erfahrungen mit solchen Lösungen gemacht.

Neue digitale Möglichkeiten: Statt eine Uhr im Laden anzuprobieren, lässt sie sich mit einem Smartphone virtuell ans Handgelenk projizieren.


Damit die Beratung gelinge, brauche es jedoch Kompetenz: auf Verkäufer- wie auf Kundenseite. «Auch für Konsumentinnen und Konsumenten ist es wichtig, digitale Kompetenzen zu erwerben, damit sie die Angebote besser verstehen und kritisch hinterfragen können», fordert Rellstab.

Zukunft Metaverse?

Rellstab erwartet, dass künftig Produktdemonstrationen und Ähnliches vermehrt «im Metaversum» stattfinden werden, also «in immersiven virtuellen Umgebungen, in die man als Nutzer eintaucht». Ebenfalls rechnet er bei Anwendungen mit künstlicher Intelligenz (KI) mit einem Durchbruch, beim «Zusammenspiel von Mensch und Maschine». Für Unternehmen seien mittelfristig Automatisierungsprozesse interessant, erläutert der Dozent. Dazu gehörten Chatbots – Programme, die beispielsweise auf einer Website Fragen von Kundinnen und Kunden selbstständig beantworten – und Spracherkennung. «In nächster Zeit werden wir diesbezüglich grosse Fortschritte sehen.»

Dagmar Jenni, Direktorin des Branchenverbands Swiss Retail, denkt in die gleiche Richtung wie Rellstab. Sie sagt: «Die reale und die virtuelle Welt werden in Zukunft ineinander verschwimmen.» Bereits böten erste Textilhandelsunternehmen ihren Kundinnen und Kunden digitale Ankleidungstools an, mit denen sie Kleider am eigenen Körper visualisieren können. Trotzdem geht Jenni davon aus, «dass uns beide Welten erhalten bleiben».

Wie sehe ich aus? An einem Bildschirm vor dem Kleiderregal lässt sich diese Frage rasch beantworten.


Wenn nötig auch noch mehr online

Grundsätzlich gilt: Digitale Innovationen werden von der Kundschaft dann befürwortet, wenn sie bequem sind und einen merklichen Vorteil bringen – oder wenn es nicht anders geht als online. Während der Coronapandemie mit ihren Einschränkungen habe die telemedizinische Beratung sehr gut funktioniert, sagt Felix Schneuwly, Versicherungsexperte bei Comparis, dem grössten Schweizer Online-Vergleichsdienst. Die Nachfrage sei aber bereits wieder markant gesunken. «Denn die medizinische Konsultation lebt in erster Linie von der Beziehungsebene», sagt Schneuwly.

Diese Erkenntnis bestätigt Catherine Loeffel, Digitalisierungsexpertin und Geschäftsleitungsmitglied von Visana. Die Krankenkasse wollte Chatbots in der Versicherungsberatung einführen, verwarf die Idee jedoch. Loeffel: «Für komplexe Beratungen eignen sich solche Bots noch nicht – da braucht es den persönlichen Kontakt.» Dennoch arbeitet Visana bereits mit künstlicher Intelligenz: Auf dem Portal Medi24 werden Chatanfragen automatisch zum richtigen Arzt triagiert. «Auf die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz setzen wir vorerst nur in Bereichen, in denen der persönliche Aspekt weniger wichtig ist», so Loeffel.

Wer im Laden steht, hat meist schon gegoogelt

So scheint die persönliche Beratung von Mensch zu Mensch an einem gemeinsamen physischen Ort also nach wie vor gefragt zu sein. Allerdings haben sich die Ansprüche geändert: «Die Kundinnen und Kunden kommen heute bereits mit grossem Wissen in den Laden, weil sie sich vorgängig im Internet informiert haben», sagt Dagmar Jenni von Swiss Retail. Fachwissen allein genüge darum nicht mehr, um die Kundschaft zu überzeugen. Das Persönliche, der direkte menschliche Kontakt, die Empathie des Verkaufspersonals – damit könne man heute offline punkten.

Die Kundschaft informiert sich heute über die Produkte, bevor sie den Laden betritt.


Und was ebenfalls für den Gang in den Laden spricht: «Sich beim Kauf einer Jeans vom Verkaufspersonal mit der nötigen Ruhe beraten lassen, das Textilmaterial spüren und mit anderen vergleichen – das funktioniert nur vor Ort im Geschäft», nennt Jenni als Beispiel. Das sei – trotz 3-D und farbigen Bildern – mit einer Online-Beratung oder einem Ankleidungstool nicht vergleichbar.

Worauf es letztlich ankommt

Online hin, offline her, persönlich oder digital, virtuell oder haptisch: «Gute Beratung findet dann statt, wenn sich die Kundinnen und Kunden wohlfühlen und zu ihrem Gegenüber Vertrauen aufbauen», so Verkaufsexperte Pascal Schwartz. «Das gilt online genauso wie offline.»

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