|
Sie investieren ein Stückchen Zeit
20.12.2023

Eine App bringt Blinde und Sehbehinderte mit hilfsbereiten Sehenden zusammen. Was motiviert die Freiwilligen?

Eine Hilfsaktion über die App «Be My Eyes» ist eine wunderbar einfache Angelegenheit: Fordert eine blinde oder sehbehinderte Person Unterstützung an, erscheint bei den Freiwilligen mit passender Spracheinstellung auf dem Smartphone eine Nachricht. Wer Zeit hat, beantwortet die Anfrage.

Das Antippen der Nachricht genügt, schon baut die App eine Videoverbindung zu der Person auf, die die Anfrage ausgelöst hat. Kurzes Hallo, und los geht’s – der Helfer oder die Helferin übernimmt jetzt das Sehen: Welche Flasche Weisswein eignet sich für den Risotto, die links oder die rechts? Und welches ist überhaupt der Risotto, welches der Trockenreis? Das sind die ersten Fragen, die Aleksandar Nikolic über die App gestellt worden sind.

Der 26-Jährige ist in Zollikofen zu Hause, studiert Philosophie und Mathematik an der Universität Bern: «Als Student bin ich nicht ständig eingespannt. Da kann ich es mir gut leisten, ein wenig meiner freien Zeit zur Verfügung zu stellen, um jemandem zu helfen.» Zumal er, der Lehrer werden möchte, sich gerne um andere kümmere.

«Jemandem zu helfen, ist gut investierte Zeit.»
ALEKSANDAR NIKOLIC


Kleiner Aufwand für ein gutes Gefühl

In den sozialen Medien ist Aleksandar Nikolic vor einiger Zeit der App begegnet. Motiviert, sie herunterzuladen und sich anzumelden, hat ihn die Neugier: «Ich wollte herausfinden, ob die App wie beschrieben funktioniert.» Besonders angesprochen habe ihn zudem, dass er als Konversationssprache nebst Schweizerdeutsch und Deutsch auch seine «zweite Muttersprache» Serbisch anbieten konnte. «Ich habe mir vorgestellt, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die dankbar sind, wenn ich ihnen auf Serbisch helfen kann.»

In der Tat hat er seine bisherigen Hilfseinsätze fast ausschliesslich auf Serbisch geführt. Von wo seine blinden oder sehbehinderten Gegenüber angerufen haben, kann Aleksandar Nikolic allerdings nur vermuten, denn die App gibt weder den Namen noch den Wohnort der Nutzerinnen und Nutzer bekannt.

Aleksandar Nikolic möchte seinen Einsatz nicht überbewerten, schliesslich könne er seine Hilfe nach eigenem Gutdünken dosieren. Und verpflichtet ist er zu nichts. Er würde sich dennoch wünschen, dass die App bekannter wird, denn jeder wahrgenommene Anruf habe bei ihm ein gutes Gefühl hinterlassen.

«Es ist ein Privileg, als sehender Mensch helfen zu können», sagt Aleksandar Nikolic – und «Be My Eyes» vereinfache das Helfen. Jedenfalls im Grundsatz. Bei der konkreten Anwendung gebe es Hürden, die aber gemeistert werden können: «Für Blinde ist es beispielsweise herausfordernd, eine Lebensmitteletikette sichtbar vor die Kamera zu halten. Da muss man klar instruieren und einander gut zuhören», erzählt er.

In wenigen Minuten Gutes tun

Dieselbe Erfahrung hat Milène Texier gemacht. «Eine Frau erreichte mich kurz vor ihren Ferien», erzählt die 26-Jährige in ihrem Zuhause in Crans-Montana. «Sie war am Kofferpacken und wollte wissen, welche Kleider am besten zueinander passen. Mit präzisen Anweisungen haben wir es geschafft, in einem hell ausgeleuchteten Raum mit stabiler Internetverbindung die Kamera im richtigen Winkel zu platzieren. Dann habe ich auch mit gutem Gewissen meine Tipps abgeben können.»

Milène Texier sagt, dass ihr die Mutter vorgelebt habe, anderen Menschen zu helfen, vor allem Menschen mit einer Behinderung. «Das hat mich beeindruckt und deshalb helfe auch ich, wie und wo immer ich kann.» Die App «Be My Eyes» sei wie gemacht für sie: «Ob unterwegs oder auch bei der Arbeit, ich kann in wenigen Minuten etwas Gutes tun für einen Menschen, der in genau diesem Moment Unterstützung braucht.» Das erfülle sie jedes Mal mit Stolz.

«Eine gute Tat zu erbringen, erfüllt mich jedes Mal mit Stolz.»
MILÈNE TEXIER


Die Französin, die seit sechs Jahren im Wallis lebt und in der Administration eines internationalen Kinder-Ferienlagers arbeitet, bezeichnet sich als kontaktfreudig. Was «Be My Eyes» angeht, hebt sie aber ihre Funktion als freiwillige Helferin hervor: «Meine Aufgabe ist es, für jemanden in einer ausserordentlichen Lage nützlich zu sein. Ich sehe mich als Dienstleisterin, die effizient Probleme löst.» Persönliche Dinge, die über den eigentlichen Grund der Kontaktnahme hinausgehen, kämen daher eigentlich nie zur Sprache – vielleicht mit einer Ausnahme: «Mit der kofferpackenden Frau habe ich noch einige Momente über Ferienerlebnisse diskutiert.»

Wie Aleksandar Nikolic möchte auch Milène Texier noch mehr Menschen über die App helfen: «‹Be My Eyes› ist für Blinde und Sehbehinderte gemacht. Ich hoffe, dass sie alle davon erfahren und es ausprobieren.»



Zahlen und Fakten

Die Idee, blinden und sehbehinderten Menschen über Videoanrufe den Alltag zu erleichtern, hatte ein Däne im Jahr 2012. Drei Jahre später ging die App online, heute bieten Freiwillige ihre Hilfe in mehr als 180 Sprachen an. In der Schweiz sind 1’200 Blinde und Sehbehinderte sowie über 22’000 Freiwillige registriert.



Freiwilligenarbeit im Sport

Vier von zehn Menschen in der Schweiz engagieren sich ehrenamtlich. Zum Beispiel Christoph Bigler: Wie und warum er einen Teil seiner Freizeit zugunsten des TV Belp und des Mittelländischen Turnfests 2024 investiert, erfahren Sie im Video.


Fotos: Stöh Grünig


Das könnte Sie auch interessieren:
Gleicher Arbeitgeber, neuer Beruf
Von der Kundenberaterin zur IT-Spezialistin: So unterstützt Valiant die berufliche Laufbahn von Melanie Bron.
Wohnen mit See- und Bergsicht
Florence und Alexandre Blanc haben ihren Traum vom eigenen Haus am Genfersee wahrgemacht.
«Ich investiere vor allem Liebe»
Jacqueline Keller hat die Murten Classics zu einem überregional bekannten Musikfestival entwickelt.