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Risiken der Zukunft
25.05.2022

Zukunftsforscher Joël Luc Cachelin berichtet von künftigen Risiken und der Chance, die Zukunft zu gestalten.

Aktuell beschäftigt sich Joël Luc Cachelin (40) mit drei Trends, die schon lange wirken und die nächsten Jahrzehnte prägen werden: die grüne, die pinke und die silbrige Transformation (siehe unten). Aus diesen übergreifenden Entwicklungen ergeben sich Chancen, aber auch Risiken. Um die Chancen zu nutzen, brauche es in vielen Bereichen ein Umdenken: «Wir sollten es wagen, die Zukunft neu zu denken, und unser Handeln entsprechend anpassen.»

Herr Cachelin, wo braucht es Ihrer Meinung nach ein Umdenken?

Grundsätzlich sollten wir Innovationen, also unsere Investitionen in die Zukunft, zirkulär denken. Negative Folgen des Neuen sollten wir von Beginn an einkalkulieren, und zwar für alle Lebewesen. Wir sind uns noch viel zu wenig bewusst, dass unser Wohlergehen und jenes der Tier- und Pflanzenwelt miteinander verbunden sind.

Das gilt wohl auch für Innovationen gegen den Klimawandel.

Richtig, doch häufig sind technische Lösungen nicht nachhaltig. Das Düngen der Ozeane könnte zwar CO2 im Wasser binden, aber das Algenwachstum stört die natürlichen Ökosysteme.

Die «grüne Transformation» wird uns noch lange beschäftigen. Nennen Sie uns das wichtigste damit verbundene Risiko.

Wo das Klima erträglich bleibt, wird die Einwanderung deutlich zunehmen. Populistische Reaktionen auf diese Migration erachte ich als eine grosse Gefahr.

Migration wird häufig als Chance für eine alternde Gesellschaft bezeichnet. Sehen Sie das auch so?

Ja. Sie hilft uns, den Fachkräftemangel zu bewältigen, bereichert unsere Kultur und stärkt die gesellschaftliche Kreativität. In der silbrigen Transformation braucht es ein Gegengewicht zur zunehmenden ökonomischen und politischen Macht der Alten. Sonst wird es beispielsweise nicht möglich sein, Konsumgewohnheiten zu verändern, die Sozialsysteme zu verbessern und die Einkommen gerechter zu verteilen.

Werden wir künftig länger arbeiten?

Davon bin ich überzeugt. Unsere Sozialversicherungen kalkulieren mit einer längst überholten Lebenserwartung. Und die Fortschritte, die durch mRNA-Technologien zu erwarten sind, sind noch gar nicht eingerechnet. Wird aber das Pensionsalter erhöht, müssen Arbeitgeber prüfen, was sie für die Vitalität, für die Veränderungsbereitschaft ihrer Mitarbeitenden tun können, um sie bis 70 oder länger in der Berufswelt zu halten.

Jedenfalls werden die künftigen Alten in nicht mehr ferner Zukunft allesamt Digital Natives sein, mit der «pinken Transformation» also gut zurechtkommen.

Ja, das Risiko digital abgehängter Offliner wird jedes Jahr kleiner. Mit der pinken Transformation sind andere Risiken verbunden: zum Beispiel neue Formen von privater und staatlicher Überwachung. Monopolistische digitale Konzerne, die nicht mehr innovativ sind. Oder Menschen, die keine realen Freundschaften erleben, keine körperliche Nähe und Wärme erhalten. Und mit dem enormen Energie- und Ressourcenverbrauch der digitalen Transformation landen wir wieder bei der grünen Transformation: Wir brauchen stromsparende Innovationen und eine nachhaltige Energieproduktion.

Hatten Sie als Zukunftsforscher eine Pandemie wie jene, die das Coronavirus ausgelöst hat, auf dem Radar für künftige Risiken?

Ja, mit einer Pandemie war zu rechnen. Aber ich hatte eine noch tödlichere Krankheit erwartet und habe mich nicht mit konkreten Folgen einer Pandemie beschäftigt – etwa wie sie die Wirtschaft oder den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinflussen könnte.

Welche Risiken schätzen Sie als Folge der Corona-Pandemie anders ein?

Verstärkt haben sich die Gefahren, die durch gesellschaftliche Trennlinien entstehen und durch populistische Politik noch gefördert werden. Das verbreitete Misstrauen gegenüber Wissenschaften, Medien und technologischem Fortschritt muss uns zu denken geben. Ebenso das sichtbar gewordene Risiko von Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übergehen. Wir sollten unsere Ernährung überdenken, veganer werden, den Tieren wieder mehr Lebensräume zugestehen.

Worin besteht eigentlich die Arbeit eines Zukunftsforschers?

Meine wichtigste Arbeitstechnik ist das Lesen. Zudem tausche ich mich mit Leuten aus, die in ähnlichen oder verwandten Bereichen arbeiten wie ich. Ich sehe in viele Unternehmen hinein und kann so flächendeckend erkennen, was für Probleme und dazugehörige Lösungsstrategien es gibt. Daraus entwickle ich Antworten für die Zukunft oder auch Fragen an sie. Das hat viel mit Ordnen und Strukturieren zu tun. Dabei achte ich auf Symmetrien, sodass zum Beispiel eine Liste mit Vorteilen gleich lang ist wie jene der Nachteile.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Zukunftsfragen zu beschäftigen?

Ich habe mich schon im Wirtschaftsstudium an der Universität St. Gallen mehr für qualitative Entwicklungen als für Zahlen interessiert. Ebenso wichtig war, dass ich zu Hause früh mit neuen Technologien in Kontakt kam, mit Laptops und dem Internet. Und mit meinem Vater schauten wir schon als Kinder Science-Fiction-Filme, das hat mich sicher geprägt.

Sie haben in diesem Frühjahr den Master in Geschichte erlangt. Weshalb haben Sie sich nochmal in die Hörsäle gesetzt?

Wie die Zukunftsforscher beschäftigen sich auch die Historikerinnen mit Veränderungen. Und es gibt Lehren aus der Geschichte, die auch für die Zukunft relevant sind. Speziell aber halte ich ältere Zukunftsentwürfe, etwa der Futuristen aus der Nachkriegszeit, für heute noch spannende, innovative Quellen.



Grün, pink und silbrig

Im Ordnungssystem von Joël Luc Cachelin sind Gegenwart und Zukunft von drei grossen Transformationen geprägt – «Metatrends», wie er sie nennt:

  • Die grüne Transformation wird durch den Wunsch nach einem ressourcen- und energieschonenderen Leben angetrieben. Ihr Zweck ist, die Kräfte des Klimawandels zu verringern und dessen Folgen zu dämpfen.
  • Die pinke Transformation handelt von digitalen Innovationen, zum Beispiel von Kryptowährungen und Drohnen. Zur pinken Transformation gehört die Entfaltung unserer Kreativität, die uns von den Maschinen unterscheidet.
  • Die silbrige Transformation erzählt vom demografischen Wandel. Durch die medizinischen Fortschritte und eine bessere Ernährung werden wir immer älter. Das Verhältnis zwischen jungen und alten Menschen ändert sich.



Er hatte mit einer Pandemie gerechnet, aber nicht mit ihren Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Joël Luc Cachelin, Zukunftsforscher.



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